Psychotherapie

Trichotillomanie: Haare ausreißen als Ventil

Trichotillomanie verstehen und bewältigen: ein umfassender Leitfaden

Den Begriff „Trichotillomanie“ führte der französische Arzt Hallopeau im Jahre 1889 ein. Dabei stehen die griechischen Worte „tricho“ für das Haar, „tillo“ für die Bewegung des Herausziehens sowie „manie“ im hier gebrauchten Sinne für eine übersteigerte Vorliebe für bestimmte Objekte, Situationen oder Handlungen. Trichotillomanie, eine psychische Störung / Erkrankung von Menschen, die eigenen Haare vom Kopf (aus) reißen zu wollen.

Trichotillomanie, also das Haareausreißen, ist eine Impulskontrollstörung, die aber in neueren Diagnosehandbüchern dem Zwangsspektrum zugeordnet wird, dennoch klar von einer Zwangsstörung zu unterscheiden ist. Diese Symptome, dieser Zwang für Betroffene, sich Haare ausreißen zu wollen beginnt meist in der Pubertät, zwischen dem 11. und 15. Lebensjahr, kann aber auch häufig schon im Kindesalter auftreten oder auch erst im Erwachsenenalter.

 

Entstehung und Verlauf

Bei den Betroffenen der Trichotillomanie besteht kein Zusammenhang mit einer die Haare betreffende Erkrankung. Die Handlung, sich die Haare vom Kopf reißen zu wollen ist keine Reaktion auf Wahn oder Halluzinationen.

Trichotillomanie ist eine medizinisch anerkannte Erkrankung, bei der sich die Betroffenen die Haare ausreißen und dies nur sehr schwer wieder stoppen können. Dies führt zu einem deutlichen Verlust von Haaren. Manche Menschen drehen oder ziehen auch die Haare heraus. Hinzu gezählt wird auch der Zwang, sich die Haare Stück für Stück abzuschneiden (Trichotemnomanie).

Trichotillomanie, auch bezeichnet als „zwanghaftes Haareausreißen“, ist eine in ihrer Auftretenshäufigkeit bisher deutlich unterschätzte Störung / Erkrankung. Viele Betroffene glauben, sie seien die oder der Einzige mit solch einem Verhalten. Aber auch viele Ärzte und Psychotherapeuten, die mit dem Wunsch einer Behandlung konsultiert werden, stehen dem Problem der Patienten mehr oder weniger hilflos gegenüber.

Dabei ist eine Therapie, in dem Fall am besten eine Psychotherapie, für Betroffene genau der richtige Ansatz der Behandlung dieser Störung.

 

Behandlungsmöglichkeiten

Nur wenige Psychotherapeuten haben sich auf das Thema Haare ausreißen und ähnliche Symptome bei Patienten spezialisiert. Da ich in meiner beruflichen Laufbahn häufig Betroffene mit dieser Störung kennengelernt habe, es jedoch wenig Literatur und Forschung auf diesem Gebiet gibt, habe ich mir zum Ziel gesetzt mich auf die Behandlung dieser Erkrankung zu spezialisieren.

Die bisher erfolgreichste Therapie der Trichotillomanie und deren Symptome ist laut Veröffentlichungen das Habit-Reversal Training. Bei dieser Behandlung wird zunächst durch Selbstbeobachtungstechniken die Selbstwahrnehmungsfähigkeit der Betroffenen geschult. Auch werden während der Therapie mit den Patienten Situationen identifiziert, in denen das Haareausreißen häufig auftritt. Anschließend wird mit den Betroffenen stufenweise eine neue Handbewegung eintrainiert, die der des Haareausreißens entgegengesetzt ist (z.B. Faust ballen). Durch ein dazu passendes Belohnungssystem wird das neue Verhalten verstärkt und gefestigt.

Zusätzlich werden in der Therapie gemeinsam mit dem Betroffenen Themen wie Umgang mit Stress, Langeweile oder anderen schwierigen Gefühlen oder aber auch Einführung einer stressreduzierenden Pausenstruktur erarbeitet, um der Störung der Impulskontrolle entgegenzuwirken.

Persönlich habe ich während meiner Arbeit mit Patienten nicht immer Erfolge mit dem Habit Reversal Training erzielen können. Eine neuere Methode, die von vielen Patienten oft besser umgesetzt werden kann ist dagegen das Habit Replacement Training. Hierbei wird bei den Betroffenen eine ähnliche Handbewegung als Ersatz eingesetzt, wie z.B. Zeigefinger und Daumen aneinander zu reiben. Die Arbeitsgruppe Klinische Neuropsychologie an der UKE Hamburg hat hierzu ein schönes Manual zusammengefasst, das sowohl Behandlern als auch Betroffenen einen guten Einblick in die verschiedenen Behandlungsmethoden, aber auch in das Habit replacement Training liefert.

 

Die Ursachen finden und verändern

Neben Techniken der Verhaltenskontrolle ist es jedoch immer wichtig zu verstehen, dass Trichotillomanie nur ein Symptom ist. Wie die Schmerzen bei einem Beinbruch nur Symptome sind und durch Schmerzmittel gestillt werden können, ist es jedoch wichtig die Ursache dessen zu beheben und zu vermeiden dasselbe Verhalten zu wiederholen was zu einem Beinbruch geführt hat. Dasselbe gilt bei der Behandlung der Trichotillomanie.

Ein großer Auslöser für den Impuls sich die Haare vom Kopf zu reißen sind unangenehme Gefühle bei den Betroffenen. Nun gibt es hier zwei Seiten, unangenehme Gefühle zu betrachten. Auf der einen Seite gilt es, die Häufung unangenehmer Gefühle zu verringern. Auf der anderen Seite gilt es jedoch auch zu erkennen und zu akzeptieren, dass unangenehme Gefühle Teil unseres Lebens und damit unvermeidbar sind. Selbst wenn wir es schaffen, immer positiv zu denken und damit uns selbst immer angenehme Gefühle zu bereiten (was höchst unrealistisch ist und wer glaubt, dass diese Beschreibung ihm selbst entspricht unterliegt einer sehr guten Verdrängungsfähigkeit ;-)), sind wir nicht gefeit vor den Gefühlen anderer.

Doch was kümmern mich die Gefühle anderer? Haben Sie schon einmal beobachtet was es mit Ihnen macht wenn jemand gut gelauntes mit Ihnen spricht? Und was geschieht wenn jemand übellaunig auf Sie zugeht? Und je nachdem mit welcher Grundstimmung Sie heute unterwegs sind, werden Sie mehr oder weniger anfällig für eine Ansteckung mit den Gefühlen des anderen sein. Aber eine gewisse Ansteckung oder Reaktion wird es immer geben. Und damit sind Sie nicht unabhängig von Ihrem Umfeld.

Und das brauchen Sie auch gar nicht zu sein. Haben Sie einen guten Umgang mit Ihren unangenehmen Gefühlen gelernt, spüren Sie das unangenehme Gefühl zwar trotzdem, aber Sie erkennen, dass es kommt und geht und Sie werden nicht zusätzlich mit Ablehnung auf dieses unangenehme Gefühl reagieren. Haben Sie dies jedoch nicht gelernt (und das betrifft die meisten Menschen auf dieser Welt) werden Sie in eine innere Ablehnung kommen und genau dieser Widerstand führt zum Leiden. Und damit zu den Symptomen. Im Fall der Trichotillomanie ist es dann eben das Haare ausreißen oder ziehen als Ventil. Es könnte genau so gut Alkohol trinken sein, aber (zum Glück!) ist es „nur“ das Ausreißen der Haare, was weitaus weniger schlimme Folgen mit sich zieht als Drogen oder Alkoholkonsum.

Erste Hilfe bei Trichotillomanie

Stimuluskontrolle: Entfernen von Spiegeln und Haarbearbeitungswerkzeugen, Mütze aufsetzen, Handschuhe anziehen, künstliche Fingernägel,

Beschäftigung der Hände: Tägliche Aktivitäten wie einen Igelball Kneten, Stricken, Basteln in Situationen von Langeweile.

Entspannungstechniken: Progressive Muskelentspannung, Autogenes Training, Phantasiereisen und andere Techniken wie Yoga Nidra können helfen innere Unruhe und Stress zu reduzieren. Tägliche Anwendung wird empfohlen.

Achtsamkeit: achtsamkeitsbasierte Meditationen üben um den Impuls schneller zu bemerken und Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Tägliche Anwendung wird empfohlen.

Realistische Erwartungen: Reduzierung von innerem Druck durch Festlegung realistischer Ziele.

Positive Selbstverbalisation: Üben Sie freundlicher, geduldiger und liebevoller mit sich selbst zu sprechen. Hilfreich hierfür kann das tägliche Üben von Metta Meditationen sein.

 

SOS Gefühlsübung bei starkem Drang:

SOS Gefühlsübung

Gegen das Haareausreißen sind das Abhängen von Spiegeln und das Beseitigen von Pinzetten oder sonstigen Hilfsmitteln, die zum Bearbeiten der Haare angewendet werden. Beliebte Tageszeiten, in denen das Haareausreißen durchgeführt wird, sollten mit anderen Tätigkeiten der Hände gefüllt werden wie z.B. einem Igelball den man knetet, Stricken, basteln, sonstige Geschicklichkeitsspiele, die mit den Händen machbar sind.

Eine radikale aber auch manchmal wirksame Methode der Stimuluskontrolle ist bei der Trichotillomanie das Abschneiden der Haare (vorausgesetzt es betrifft nur das Kopfhaar). Wenn die taktilen Reize sich ändern kann dem auslösenden Drang so bereits im Vorhinein entgegengewirkt werden. Manchmal lohnt es sich auch zu beobachten, ob es gewisse Zustände der Haare gibt, die den Impuls mehr auslösen z.B. wenn sie länger nicht gewaschen wurden, frisch gewaschen sind etc.. Unter Umständen kann bei Betroffenen auch so vermieden werden, dass der Drang die Haare vom Kopf zu reißen ausgelöst wird.

Eine große Komponente sind die oftmals rasenden Gedanken bei Trichotillomanie Betroffenen. Hierbei können Entspannungstechniken wie die Progressive Muskelentspannung, Autogenes Training oder auch achtsamkeitsbasierte Meditationen auf mittelfristige Sicht entgegenwirken. Insbesondere bei täglicher Anwendung z.B. morgens und abends (je mind. 30 min.) können die besten Ergebnisse gegen das Haareausreißen erzielt werden (nach 6 – 8 Wochen bereits Veränderung bemerkbar!).

Betroffene haben häufig eine hohe Intelligenz und Leitungsbereitschaft. Die überhöhten Ansprüche führen jedoch meist zu viel zu hohen Erwartungen und einem inneren Druck, der über die Trichotillomanie abreagiert wird. Diesen Druck zu reduzieren ist das Ziel in einer Psychotherapie, kann aber auch eigenständig bereits beobachtet und aktiv bearbeitet werden, wenn die Motivation groß genug ist. Hierbei hilft es sich täglich z.B. nur die Hälfte dessen vorzunehmen, was Sie eigentlich vor hatten. Dann sind Sie ungefähr bei dem Pensum, das für Sie gesund ist.

In Begleitung und mit Anleitung ist der Weg für Betroffene jedoch oft leichter, was nicht bedeutet, dass es bei Durchführung der oben genannten Techniken und einer intensiven Auseinandersetzung mit sich selbst nicht bereits zu wesentlichen Besserungen kommen kann.

Erfahren Sie mehr über den Psychotherapie Ablauf und eine mögliche Hilfe bei Trichotillomanie von Psychotherapeutin Sarah Schwemin.

Trichotillomanie

Zahlen und Fakten

Anteil Betroffener in Deutschland 1%